Die klimafreundliche Transformation der Industrieproduktion nimmt Fahrt auf – Arcadis-Experte Gordon Mauer erklärt im Interview, auf was es jetzt ankommt für die Unternehmen, damit ökonomische und ökologische Effizienz Hand in Hand gehen.
Frage: „Gordon, jetzt mal Hand auf’s Herz – einen Industriestandort auf Net Zero zu bringen, kann doch nicht so kompliziert sein. Kohlestrom abstöpseln, Wind- und Sonnenstrom andocken und fertig ist die Sache.“
Antwort: „Eine lustiger Gedanke - das wäre ungefähr so, als würde man an ein Verbrenner-Auto eine Ladebuchse dranschrauben und damit dann an die E-Tankstelle fahren. Nein, wenn man die vollen Potenziale einer Net Zero Strategie für Produktionsstandorte ausnutzen will, dann sollte man die Sache schon ganzheitlich angehen, alle Prozesse, Anlagen, Bauwerke und die Infrastruktur auf Herz und Nieren prüfen. Unternehmen, die das Thema Dekarbonisierung strategisch angehen, werden langfristig das Wettbewerbsfeld anführen.“
Frage: „Wie ist deine Einschätzung des Status quo im Marktsektor insgesamt? Sind Dekarbonisierungsstrategien inzwischen eine Selbstverständlichkeit in den produzierenden Unternehmen?“
Antwort: „Insgesamt steigt das Bewusstsein für die Herausforderung kontinuierlich. Einige gehen ambitioniert und proaktiv voran, schließen sich freiwillig Programmen wie der Science Based Target Initiative an und setzen sich Ziele, die über die aktuellen rechtlichen Anforderungen noch hinausgehen. Andere sind eher reaktiv orientiert und bewegen sich erst dann, wenn Brüssel oder Berlin eine harte Terminfrist setzen. Totalverweigerer kommen am Markt eigentlich nicht mehr vor, das können sich Unternehmen schlichtweg nicht mehr leisten. Die einen starten erstmal ein Pilotprojekt an einem Standort, die anderen gehen gleich ihr gesamtes Asset-Portfolio an.“
Frage: „Nehmen wir an, ich bin Geschäftsführer eines typischen Vertreters der ‚Hidden Champions‘ im deutschen Maschinenbau, die den globalen Markt mit ihren exzellenten Produkten bedienen. Und zugegeben – Dekarbonisierung und Klimaneutralität standen in den letzten Jahren nicht ganz oben auf meiner Prioritätenliste. Wie gehe ich vor?“
Antwort: „Eine Dekarbonisierungsstrategie ist immer abhängig von der Gesamtausrichtung eines Unternehmens. Wie passt ein Nachhaltigkeitsplan in die übergeordnete Immobilienstrategie, und damit auch in die Unternehmensstrategie? Da diese immer kunden- und standortspezifisch sind, sind auch die jeweiligen Dekarbonisierungsstrategien nie Standardprodukte, sondern immer standortspezifisch. Daher würde ich mir erst einmal Sachverstand ins Haus holen. Aber ich würde vorher genau abklopfen, ob diese externen Berater einfach nur standardisierte One-size-fits-all-Lösungen verkaufen, oder ob sie das Branchen-Know-how und die interdisziplinäre Expertise mitbringen, um mir wirklich einen individuell optimierten Net-Zero-Plan für mein Unternehmen bieten können. Ich würde abprüfen, ob ihr Sachverstand den gesamten Lebenszyklus von Standorten, Bauwerken und Anlagen abdeckt. Vielleicht muss ich als Unternehmer für diese Transformation einen zwei- oder gar dreistelligen Millionenbetrag in die Hand nehmen. Da will ich einen optimalen Return on Investment. Und zwar langfristig – sowohl für den ökologischen als auch für den ökonomischen Output. Last but not least würde mich interessieren, ob der Dienstleister Erfahrung in der Transformation von Industriestandorten und im Change Management mitbringt.“
Frage: „Nehmen wir an, Arcadis wird für ein solches Dekarbonisierungsprogramm beauftragt. Wie geht euer Team vor?“
Antwort: „Die Frage kann ich direkt aus der aktuellen Projektpraxis beantworten. Wir erarbeiten für einen international aufgestellten Top-Player der Intralogistik-Branche gerade eine Pilot-Studie. Den Auftakt bildet eine Analysephase, in der wir das gesamte Unternehmen unter die Lupe nehmen: Wir erfassen den aktuellen Zustand von Gebäuden, Gebäudeinfrastruktur und Anlagen. Wir untersuchen die Energieversorgung von Bauwerken und Anlagen. Wir analysieren die Wärme- und Kälteversorgung von Bauwerken und Produktionsprozessen. Und nicht zuletzt nehmen wir die Transport- und Mobilitätsysteme unter die Lupe – vom Fließband bis zum Firmenfuhrpark. Die Ergebnisse bilden dann die Grundlage für die Dekarbonisierungsstrategie und deren Umsetzung. Aber auch langfristige Firmenentscheidungen spielen eine Rolle. Wie will das Unternehmen langfristig agieren? Wie sieht die Portfoliostrategie aus? Bleibt das Unternehmen in Deutschland? Wird der Stammsitz sogar gestärkt? Oder wandert das Unternehmen letztendlich ins Ausland aus? All dies beeinflusst unsere Ergebnisse und Empfehlungen.“
Frage: „Unternehmer werden sich schwerlich davon überzeugen lassen, ihre gesamten Prozesse und Aktivitäten der Klimaneutralität unterzuordnen. Wo sind die Zielkonflikte in diesem Prozess?“
Antwort: „Die wichtigsten Zielkonflikte sind immer auf technischer, wirtschaftlicher und struktureller Ebene zu adressieren. Da geht es prioritär um Business Continuity, ökonomische Effizienz und professionelles Transformationsmanagement. Wie wird im ganzen Implementierungsprozess eine unterbrechungsfreie Energieversorgung gewährleistet? Welche präventiven Maßnahmen sichern hundertprozentige Sicherheit und Kontinuität in den Produktionsprozessen? Welche technischen Investitionen in Emissionsminderung bringen tatsächlich den größten Effekt? Welche strukturellen und organisatorischen Veränderungen sind notwendig und wie können wir verhindern, dass die Dekarbonisierung durch innere Widerstände und interne Reibungsverluste unnötig verzögert und verteuert wird? Und letztendlich ist ja bei einer Dekarbonisierung des Standortes nicht Schluss. Aufgrund sich ändernder Klimaverhältnisse gibt es gehäufte Starkregenereignisse, auch da müssen Standorte vorbereitet werden, um ihr Wassermanagement resilient aufzustellen und keinen Produktionsausfall zu riskieren. Weitere Aspekte sind neue Mobilitätskonzepte, ein verändertes Arbeitsverhalten der GenZ und digitale Produktionsprozesse wie Industrie 4.0.“
Frage: „Welche Rolle spielt Digitalisierung in diesem Kontext?“
Antwort: „Da ist das etwas inflationär verwendete Buzzword ‚Disruption' hier wirklich mal zutreffend. Was in Bezug auf Prozess- und Gebäudesimulation, auf Carbon Real Estate Monitoring und Information Dashboards heute möglich ist, war vor ein paar Jahren noch Science-Fiction. Konkretes Beispiel: Wir haben mit unserem ‚Net Zero Catalyst Decarbonization Model' ein Tool entwickelt, dass die Klimaziele eines Industrieunternehmens in einen konkreten Maßnahmen-Fahrplan übersetzt. Das Ergebnis ist eine belastbare Marginal-Abatement-Cost-Kurve, die den Erfolg in der CO2-Emissionsminderung über die Zeitachse verlässlich prognostiziert. Die Zeiten, in denen man einfach ‚irgendwas für Klimaschutz' machte, sind lange vorbei. Mit der Kombination aus digitalem, technischem und betriebswirtschaftlichem Know-how können Industrieunternehmen heute ein völlig neues Level an Planungssicherheit und Effizienz bei der Dekarbonisierung erreichen und dies auch wirtschaftlich umsetzen.“
Frage: „Arcadis ist kein IT-Unternehmen. Können solche Lösungen da überhaupt inhouse entwickelt werden?“
Antwort: „Wir fahren eine offensiven Kooperationskurs in Bezug auf Digitalisierung für Dekarbonisierung. Für die Entwicklung von IT-Lösungen im industriellen Klimaschutz kooperieren wir zum Beispiel mit dem Fraunhofer-Institut – da geht es mit einem ganzheitlichen Blickwinkel um BIM, Nachhaltigkeitsbewertung, Baulogistik, Kreislaufwirtschaft, Lieferketten, Carbon Management, Green Hydrogen und vieles mehr. Darüber hinaus haben wir auf globaler Ebene eine Zusammenarbeit mit dem Unternehmen CoolPlanet initiiert, das sich auf digitale Dekarbonisierungslösungen spezialisiert hat. Es ist immer wieder eine erstaunliche und faszinierende Erfahrung, welche Ideen entstehen, wenn man solche Expert*innen aus verschiedenen Bereichen an einen Tisch bringt.“
Frage: „Nochmal zurück zum Thema Lebenszyklus-Perspektive. Warum ist die so wichtig für Dekarboniserungsprogramme?“
Antwort: „Weil die Klimabilanz eines Industrieunternehmens erst dann vollständig erfasst und optimiert ist, wenn man die Portfolios, Standorte, Gebäude und Anlagen in ihren Evolutionsprozessen komplett erfasst. So ein Unternehmen ist wie ein Organismus, der sich permanent verändert. Standorte werden aufgelöst, rückgebaut und saniert. Neue Standorte werden gegründet und entwickelt. Auf existierenden Standorten wird modernisiert, transformiert, rück- und umgebaut, und das im laufenden Betrieb. Dekarbonisierungsstrategien müssen diese zeitliche Dimension vollständig integrieren, sonst bleiben sie unter ihren Möglichkeiten – und übrigens auch unter den gesetzlichen Anforderungen.“
Frage: „Gutes Stichwort: Die Dekarbonisierung eines Industriebetriebes bewegt sich ja nicht im rechtlichen Niemandsland. Wie wichtig ist entsprechende Kompetenz für den Transformationsprozess?“
Antwort: „Je mehr Praxiserfahrung man in Bezug auf Environmental Social Governance (ESG), Energieeffizienzgesetz, Taxonomie-Verordnung und Lieferkettengesetz mitbringt, umso besser. Rechtliches Know-how gewährleistet, dass am Schluss nicht nur die Klimabilanz, sondern auch die Compliance stimmt und die Rechtsabteilung den Daumen hebt. Eine genaue Beobachtung der Gesetzgebungsverfahren auf Bundes- und EU-Ebene ermöglicht darüber hinaus, nicht reaktiv, sondern proaktiv mit sich abzeichnenden neuen Anforderungen umzugehen. Das hat sich auch aus betriebswirtschaftlicher Perspektive immer bewährt.“
Frage: „Wenn du dir die bisherigen Best Practices in diesem Bereich anschaust – was ist wichtiger? Die richtige Technik oder das richtige Mindset?“
Antwort: „Das kann man überhaupt nicht voneinander trennen. Neben den vielen faszinierenden technischen Aspekten und Herausforderungen bedeutet Dekarbonisierung immer auch einen substanziellen Kulturwandel in Unternehmen. Wenn das gut funktioniert, wird jede unternehmerische Entscheidung nicht mehr nur betriebswirtschaftlich, sondern auch emissionstechnisch vorbereitet und durchdacht. Es macht richtig Spaß, an der Innovationsfront zu verfolgen, wie diese Sichtweise in der Industrie sukzessive zur Selbstverständlichkeit wird. Und wenn man zukünftig das CO2 nicht als Risiko betrachtet, sondern als Rohstoff, dann ergeben sich zukünftig ganz neue Geschäftsmodelle.“